Freitag, 12. Januar 2018

Februar 2018 - Transparenz 1/3

Januar 2018: Transparenz 1/3

Als das Nachbarhaus abgerissen und durch die moderne Version einer Blockrandverbauung ersetzt wurde, begann ich mich mit dem Begriff Transparenz zu beschäftigen. Im Rahmen der üblichen innerstädtischen "Aufwertung", erneuerte sich auch die Nachbarschaft. Von eher kleinen Fenstern mit gezogenen Vorhängen, wechselte das Bild zu grossen Fenstern mit offenen Vorhängen. Unfreiwillig wurde ich Zeuge der Aktivitäten meiner neuen Nachbarn, sobald ich aus dem Wohnzimmerfenster blickte. Aber wollte ich das auch wirklich? Und würde ich meine häuslichen Verrichtungen mit der Welt teilen wollen? Die Banalitäten meines Alltages wollte ich niemandem ungefragt zumuten, wie ich auch keinen direkten Blick auf die privaten Essgewohnheiten meiner Nachbarn suchte.

Im Film "Das Leben der Andern" von Florian Henckel von Donnersmarck aus dem Jahre 2006, wird die innere Wandlung eines Stasi-Agenten erzählt, der mit der umfassenden Observierung eines Künstlerpaares, Einblick in ein ganz anderes Leben erhält und so sich mit seinen eigenen Umständen auseinanderzusetzen beginnt. Hier liegt - durch die umfassende Ueberwachung, die Situation eines perspektivischen Panoptikons vor, die aber entgegen der ursprünglichen Absicht Benthams, nicht (nur) zu einer Veränderung des Verhaltens der Beobachtenden führt, sondern dem Beobachter innere Räume auftut, die ihm bisher verborgen waren und ihn somit verändern. Wäre die Veränderung beim observierenden Stasi-Agenten auch zu Stande gekommen, wenn er nicht eine bewusste Grenzüberschreitung in einen ihm zuvor intransparenten Raum begänge? Das Erregungsmoment des Tabubruches kann zu einem Treiber der Reflexion werden. Vorausgesetzt ein Bewusstsein für den Tabubruch ist überhaupt vorhanden. Was nicht zwingend ist, denn sonst wären die klassischen Fenster- und Garderobenvoyeure allesamt Mitglieder der philosophischen Elite oder die philosophische Elite bestünde aus ebensolchen. Transparenzherstellung findet also in einem inter- und intrapersonalen Raum statt.

Zu den oben genannten eher persönlichen und direkten Anstössen zur Auseinandersetzung mit dem Thema, kommen die täglichen Nachrichten aus der Welt der Politik oder Wirtschaft. Wir wollen wissen wie unsere Parteien finanziert sind, was in unsere Nahrungsmittel gemischt wird und ob die Medikamente, die uns verschrieben werden auch wirklich helfen. Je mehr unser tägliches Leben von Systemen bzw. den Manifestationen davon, den Organisationen, definiert wird und je mehr Zeit wir in Organisationen verbringen, je mehr müssen wir über Organisationen wissen um überhaupt systemadäquat agieren zu können. Transparenzbedarf besteht also auch zwischen Individuum und System.

Nach jedem politischen oder wirtschaftlichen Skandal kommt die Forderung nach mehr Transparenz auf. Zurecht werden transparente Prozesse gefordert und wenn uns Transparenz dann geliefert wird, scheint es doch nie genug zu sein. Das in der geäusserten Forderung nach Transparenz mitschwingende Misstrauen überträgt sich offenbar auch auf die transparenzschaffende Aktion bzw. deren Bewertung. Transparenz hat also auch immer mit Vertrauen zu tun.

Gerade der letzte Aspekt - Transparenz und Vertrauen - spielt in der Zeit der digitalen Disruptionen und der Komplexität der uns umgebenden Systeme, eine entscheidende Rolle. Denn die Forderung nach der Transparenz setzt ja voraus, dass so etwas wie totale Transparenz überhaupt möglich ist. Daran zweifle ich, ist doch immer ein Teil des betrachtenden Objektes im Verborgenen, sei es durch meinen physischen Standort, der keinen unverstellten Blick auf das Objekt erlaubt, oder die Perspektive keine ganzheitliche Erfassung zulässt.

Im Verhältnis zwischen Individuum und (hoch-) komplexem System gibt es den Perzeptionsfilter des Betrachters, dessen Durchlässigkeit von der Bewertungsfähigkeit der systemischen Prozesse durch den Betrachter abhängt. Das heisst, auch bei theoretisch vollständig offengelegten Prozessen, werden diese erst transparent wenn eine Antizipierbarkeit der Abläufe durch den Betrachter möglich ist. Und Abläufe in ihren Auswirkungen auf sich selbst antizipieren zu können, setzt voraus, dass man sie bewerten kann. Um sie bewerten zu können, müssen sie vom System her offengelegt, also transparent sein. Das Individuum muss aber auch in der Lage sein eine Bewertung vorzunehmen, was voraussetzt, dass das Individuum ein umfassendes Verständnis der Prozesse hat. In einem einfachen System mag dieses Verständnis noch bei den meisten Akteuren in Bezug auf die wichtigsten Prozesse vorhanden sein, sie somit antizipieren können, die Akteure können sich also auf die bekannten und erkannten Prozesse verlassen. In einem komplexen System kann man jedoch nicht mehr ein genügendes Verständnis für die meisten Prozesse entwickeln. In einem hochkomplexen-dynamischen System wissen die meisten Akteure nicht einmal mehr genau, welche Prozesse wann die wichtigen sind. Selbst bei grundsätzlich offengelegten Prozessen müssen sie darauf vertrauen, dass sie sich auf diese verlassen können.

Betrachtet man Transparenz unter dem Aspekt des Vertrauens, so kann man aus oben gesagtem eine Definition für hochkomplexe Systeme ableiten: Ein System ist dann hochkomplex, wenn die Mehrheit der Systemakteure in Bezug auf die meisten Prozesse darauf vertrauen muss, dass sie sich auf diese verlassen kann.

Akzeptiert man obige Definition als Prämisse, kann man die These aufstellen, dass die Zeichen der Zeit, wie sie sich zum Beispiel in der Personalisierung der Politik manifestieren oder in der Wahl von Gemeinplätzen absondernden Politikneulingen zu Präsidenten, auf eine Suche nach dem vertrauten Umfeld hindeuten. Auch das Fokussieren auf Teilrationalitäten, das sich beispielsweise in der Verabsolutierung von Ernährungsweisen oder Identitäten manifestiert, ist in gewissem Sinne ein Rückzug ins Ueberschaubare, der Versuch Handlungsmacht zurückzugewinnen.

Teil 2 (Begriff der Transparenz) folgt Anfang März und mit Teil 3 (Operationalisierung des Gesagten) wird diese kleine Trilogie zum Thema Transparenz per Ende März abgeschlossen.

(Copyright: Urs Luescher)